Agilität als Motto
Mag. Alexander Herzog |
Traditionsland Österreich
Es ist ein Déjà-vu: Vor genau 2 Jahren standen wir politisch in Österreich an genau derselben Stelle wie dieses Jahr, nämlich vor einer neuen Regierung. Seit damals blieb kein Stein auf dem anderen – Stichwort Ibiza-Affäre – und wir sehen uns abermals vor der Situation, mit neuen politischen Repräsentanten die Rahmenbedingungen für unsere Industrie zu verhandeln. Es ist zu hoffen, dass diese Kurzfristigkeit keine Tradition wird.
5 aus 21
Doch nicht nur in der Politik gab es Umwälzungen, sondern auch im Sozialversicherungsbereich. Viele Jahrzehnte (!) wurde darüber gesprochen, 2019 wurde sie nun tatsächlich umgesetzt, die Reform der Krankenkassen. Bis es soweit war, wurden zahlreiche Konzepte von vielen Stakeholdern und Experten vorgelegt und diskutiert.
Ab 01.01.2020 heißt es, angelehnt an den Lottospruch 6 aus 45: 5 aus 21 – denn 21 Krankenkassen werden auf 5 reduziert bzw. zusammengeschmolzen. Anders als beim Lottospiel ist der Einsatz hoch, immerhin müssen Leistungen harmonisiert, muss eine neue Infrastruktur aufgebaut, müssen Verträge neu verhandelt und abgeschlossen werden.
Wie hoch der Gewinn letztlich ausfallen wird, wird sich erst zeigen. Von einer „Patienten-Milliarde“ war öfter die Rede, die durch Einsparungen erzielt und die den Patienten z. B. durch einen erweiterten Leistungskatalog zur Verfügung gestellt werden könne. Ob das auch wirklich möglich ist, wird sich zeigen.
Auch lässt sich noch nicht mit Sicherheit sagen, was das alles für die pharmazeutische Industrie in Österreich bedeutet. Wir sind jedenfalls zuversichtlich, dass wir mit den neuen Vertretern in der Sozialversicherung eine gute Gesprächsbasis finden werden. Dabei liegt es freilich an uns selbst, aufzuzeigen, welchen Mehrwert unsere Branche dem Wirtschafts- und Forschungsstandort Österreich bietet.
Was der Nutzen kostet …
Unsere Industrie steht in der Kritik, das Gesundheitssystem über Gebühr zu belasten. Nicht nur hier in Österreich, sondern europaweit ist dieser Vorwurf zu vernehmen. Es wird daher nötig sein, klarzustellen, dass dem nicht so ist und aufzuzeigen, worin der Nutzen unserer Branche und v. a. unserer Produkte liegt.
Zu oft werden letztere auf die Kosten reduziert, die sie im System verursachen. Ausgeklammert bleibt dabei stets – bewusst oder unbewusst – wie weitreichend der Gewinn ist, nicht nur an Lebensqualität und an Lebensjahren, sondern auch in volkswirtschaftlicher Hinsicht oder was die Erkenntnis betrifft: Wo innovative, hochkomplexe und leistungsfähige Therapien zum Einsatz kommen, profitieren zuerst Patienten. Es profitieren genauso die, die die Therapien anwenden können, nämlich durch den Erkenntnisgewinn, durch die Expertise, die sie damit für sich und die Institution, in der sie tätig sind, aufbauen. Es profitiert die Volkswirtschaft, wenn dank neuer Therapien Krankheiten geheilt und die Lebensqualität wieder erhöht werden kann. Denn das macht Betroffene wieder fit, um an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren.
Darüber hinaus lassen sich mitunter lebenslange Therapien vermeiden, ebenso Krankenhausaufenthalte. Familienangehörige, die Betroffene pflegen mussten, werden ebenso entlastet. Das alles sollte in Betracht gezogen werden, wenn man über Innovationen im Arzneimittelsektor spricht und wenn sogar vor neuen Therapien geradezu gewarnt wird.
… und wie er bewertet wird
Der Nutzen neuer Therapien ist umfassend, doch leider ist unserem System die Patienten-Convenience egal, wenn es um die (preisliche) Bewertung eines neuen Arzneimittels geht. Dabei macht es, abgesehen von jedwedem Heilungspotenzial, für Betroffene schon dann einen großen Unterschied, ob sie dreimal am Tag 6 unterschiedliche Medikamente nehmen müssen oder ihnen ein Kombinationspräparat zur Verfügung steht, das sie einmal pro Tag oder pro Woche einnehmen. Patienten-Convenience heißt Lebensqualität. In der Bewertung zählt das aber kaum bis gar nicht.
Die Forderung lautet ganz klar: Innovationen müssen im System vorangetrieben und so rasch wie möglich den Patienten zugänglich gemacht werden. Innovative Therapien dürfen nicht in der „Warteschleife hängen“. Sie dürfen nicht unter Wert behandelt werden.
Wer zahlt und wer profitiert?
Es liegt an uns, den Nutzen sichtbar zu machen. Es liegt an uns, bei komplexen und leistungsfähigen, innovativen Therapien das ebenso komplexe Nutzenprofil aufzuzeigen. Denn der Nutzen innovativer Arzneimittel macht sich nicht unbedingt bei jenen bemerkbar, die für diese Arzneimittel zahlen. Er macht sich auch nicht zwingend sofort bemerkbar, sondern zeitversetzt, zumal es dauern kann, bis behandelte Menschen auch wirklich wieder in der Lage sind, sich an ihrem Arbeitsplatz zu 100 % zu engagieren.
Der Druck auf die Industrie steigt, gleichzeitig wissen wir: Es werden auch in den nächsten Jahren großartige, leistungsfähige und völlig neue Therapien auf den Markt kommen, mit denen bisher nicht behandelbare Krankheiten behandelt werden können oder die wirksamer sind als bisherige Therapien.
Multiplikation als Milchmädchenrechnung
Mit den neuen, innovativen Therapien werden immer mehr seltene Erkrankungen behandelbar. Auch das müssen wir erklären: Wenn jahrelange, finanziell anspruchsvolle Forschung in ein Produkt mündet, das nur bei einer überschaubaren Anzahl an Patienten angewendet werden kann – das aber für diese einen entscheidenden Mehrwert bietet – dann müssen die Unternehmen auch anders kalkulieren als bei jenen Arzneimitteln, mit denen Volkskrankheiten behandelt werden können.
Dazu braucht es in Wahrheit nicht viel betriebswirtschaftliches Verständnis. Wir müssen es aber erklären. Wir müssen auch unsere eigenen, bisherigen Geschäftsmodelle neu denken lernen. Die derzeitigen Finanzierungsmodelle entsprechen nicht der Dynamik am Arzneimittelsektor. Hier sind neue Modelle gefragt, mit denen die neuen Therapien finanziert werden. Pay for Performance ist ein – mittlerweile gar nicht mehr so neuer – Ansatz. Jedoch zeigt sich auch hier die Komplexität in der Arzneimittelerstattung: Welche Bewertungskriterien werden definiert? Wer überwacht die Compliance?
Die Versorgung sicherstellen
Die Verfügbarkeit von und Versorgung mit Arzneimitteln beschränkt sich allerdings nicht nur auf die Preisdiskussion. 2020 wird auch das Jahr, in dem wir klare Fortschritte in der Bekämpfung der Lieferengpässe machen werden müssen. Im vergangenen Jahr ist es uns gelungen, die Komplexität der Arzneimitteldistribution aufzuzeigen und damit auch die vielfältigen Gründe, warum es vermehrt zu Lieferengpässen kommt.
Im nächsten Schritt müssen wir Transparenz ins System bringen, um darauf aufbauend – in unserem ganz persönlichen Interesse als Patienten ebenso wie im Interesse unserer Industrie – Maßnahmen entwerfen zu können, um Arzneimittel wieder vollumfänglich verfügbar zu machen. Kein Unternehmen hat ein Interesse daran, dass Arzneimittel nicht verfügbar sind.
Wir sind in Österreich auf einem guten Weg, was die Bekämpfung von Lieferengpässen betrifft. Es zeigt sich in der intensiven Zusammenarbeit der Systempartner, was wir im Sinne der Patienten zu leisten im Stande sind. Aus dem Problemfall Lieferengpässe können wir so auch eine Best Practice der Zusammenarbeit machen.
Mit Gewinn investieren
Die Lieferengpassproblematik führt uns allen aber vor Augen, wie weit und wo überall sich letztlich der beständige Preisdruck, den sich die Branche seit Langem ausgesetzt sieht, Bahn bricht. Auch hier brauchen wir ein gesamtgesellschaftliches Umdenken: Gesundheit darf nicht immer nur als Kostenfaktor gesehen werden. Gesundheit ist ein Bereich, bei dem es sich lohnt, zu investieren.
Denn letztlich gewinnen wir alle, wenn wir das Gesundheitssystem nicht aushungern, sondern wenn wir zur Überzeugung gelangen: Jeder in die Gesundheit investierte Euro ist ein guter Euro. Schließlich wollen wir alle lange leben und möglichst gesund altern. Das darf und muss uns schon auch etwas wert sein.
pharmind 2020, Nr. 1, Seite 13