Zukunftsorientierte Arzneimittelpolitik
Dr. Hubertus Cranz |
Europa: viel Klärungsbedarf
Das regulatorische Umfeld der Arzneimittelzulassung und -produktion ist eingebettet in ein komplexes europäisches Regelwerk. Vor diesem Hintergrund kommt der Ende 2020 von der Europäischen Kommission vorgelegten Arzneimittelstrategie besondere Bedeutung zu. Diese ist die Grundlage für die laufenden Arbeiten zur Revision der europäischen Arzneimittelgesetzgebung. Der BAH beteiligt sich intensiv an den vorbereitenden Diskussionen und legt dabei großen Wert auf den Erhalt bewährter Strukturen. So sollte die bestehende Dualität von Verordnung und Richtlinien beibehalten werden. Diese ermöglicht die Kombination einer gewissen Flexibilität mit klaren Vorgaben für EU-weite Abläufe. Inhaltlich muss v. a. die von der Europäischen Kommission angestrebte Verbindung von der Verfügbarkeit eines neuen Arzneimittels in allen EU-Ländern mit der Länge des Unterlagenschutzes mit größter Vorsicht angegangen werden. Auch die angedachte Bewertung eines neuen Arzneimittels im Hinblick auf Patientenbedürfnisse wirft viele Fragen auf. Weiterhin hat sich der Rechtsrahmen für Arzneimittel zur Behandlung seltener Erkrankungen grundsätzlich bewährt und mögliche Anpassungen sollten die notwendigen Anreize zur Entwicklung dringend benötigter Innovationen nicht einschränken.
Aber natürlich bietet eine Revision der europäischen Arzneimittelgesetzgebung auch die Chance zur Korrektur. So sollten Anreize zur Freistellung von Arzneimitteln aus der Verschreibungspflicht durch eine Verlängerung der Schutzfristen für die dafür notwendigen Unterlagen gestärkt werden. Auch ergibt eine elektronische Packungsbeilage anstatt einer gedruckten Form langfristig Sinn. Besonders wichtig ist Bürokratieabbau und v. a. eine Verringerung der viel zu komplexen Anforderungen bei kleineren Produktanpassungen. Eine Änderung der Verordnung zu Variationen sollte baldmöglichst erfolgen.
Spannend bleibt die Umsetzung der Verordnung zu Health Technology Assessment. Die grundlegenden Strukturen sind nun etabliert und die vorbereitenden Arbeiten laufen. Zentrales Anliegen bleibt die Etablierung angemessener Beurteilungsverfahren, aber natürlich auch die Vermeidung unnötiger Doppelarbeit auf europäischer und nationaler Ebene.
Nach viel politischer Arbeit im Zusammenhang mit der Umsetzung der Medizinprodukteverordnung scheint sich nun die Erkenntnis durchzusetzen, dass zumindest eine Anpassung der Fristen zum Erhalt der Versorgung, aber auch für Neueinführungen unbedingt notwendig ist. Den dafür notwendigen Vorschlag der Europäischen Kommission gilt es im Ministerrat und im Europäischen Parlament zügig zu beraten. Nur durch eine baldige Annahme der Änderungen kann eine weitere Verunsicherung in der Bevölkerung, aber auch bei den Heilberufen und den Herstellern vermieden werden.
Zukunftsthema I: Nachhaltigkeit
Eine zusätzliche Herausforderung aus Europa ist die geplante Revision der Richtlinie über die Behandlung von kommunalem Abwasser, welche durch eine Verpflichtung zur Kostenübernahme für die 4. Reinigungsstufe erhebliche Belastungen v. a. für die Arzneimittel-Hersteller mit sich brächte. Der von der Europäischen Kommission gewählte Ansatz bleibt fragwürdig und untergräbt die intensiven Bemühungen auf nationaler Ebene in der sog. Spurenstoff-Strategie und in den Runden Tischen zu ausgewählten Substanzen. Wir hoffen auf Einsicht im europäischen Gesetzgebungsprozess und werden diesen intensiv begleiten.
In diesem Zusammenhang muss deutlich gesagt werden: Arzneimittel-Hersteller unterstützen die Ziele hinsichtlich Klimaneutralität. Nachhaltigkeit ist zu einem der wichtigsten Themen auf der Agenda der Unternehmen geworden. Der BAH unterstützt die Branche bei der ökologischen Transformation durch ein umfassendes Beratungsprogramm und eine Vielzahl von Veranstaltungen. Die BAH-Akademie bietet unseren Mitgliedern mit dem Lehrgang Nachhaltigkeitsmanagement die Möglichkeit, sich intensiv mit den regulatorischen Anforderungen auseinanderzusetzen und ihr Unternehmen klimafreundlich und nachhaltig aufzustellen. Mit der feierlichen Vergabe des ersten BAH-Preises für Nachhaltigkeit an Leuchtturmprojekte dreier Mitgliedsunternehmen konnten wir aufzeigen, dass etablierte Maßnahmen schon heute substanzielle Beiträge beim Klimaschutz leisten.
Zukunftsthema II: Digitale Transformation
Auch an der digitalen Transformation wirken wir intensiv mit. Die vorgeschlagene Errichtung eines europäischen Gesundheitsdatenraumes sowie das angekündigte Forschungsdatennutzungsgesetz gehen Schwachpunkte in unserem bisherigen System an. Wichtige Voraussetzungen für eine sinnvolle Weiterentwicklung ist eine allgemein akzeptierte elektronische Patientenakte, deren Potenzial für eine verbesserte Gesundheitsversorgung jedermann verständlich sein sollte. Dabei muss die Entscheidungsbefugnis des Einzelnen hinsichtlich der Datenverwendung selbstverständlich erhalten bleiben. Gleiches gilt für die – wenn auch verzögerte – Einführung des elektronischen Rezepts und dessen Einlösung. Hier ist eine baldmögliche Integration des Grünen Rezeptes von Bedeutung.
Interessant ist auch die weitere Entwicklung bei den digitalen Gesundheitsanwendungen. Eine erfolgreiche Platzierung von Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) im Markt ist aufgrund einer weiterhin überschaubaren Akzeptanz in der Ärzteschaft, aber auch vielfältiger „Konkurrenz“ durch frei verfügbare Health Apps nicht einfach. Die Möglichkeiten für eine verbesserte Gesundheitsversorgung sind aber weiterhin vorhanden. Damit ist in gewissem Maße auch das zunehmende Interesse verbunden, mehr Verantwortung für die eigene Gesundheit zu übernehmen. Bereits heute werden in Apotheken mehr als die Hälfte der veräußerten Packungen ohne Rezept abgegeben. Dazu muss qualitativ hochwertige Information verfügbar sein und bleiben, v. a. auch durch die Vor-Ort-Apotheken. Dies beinhaltet auch die notwendige Sachkenntnis bei homöopathischen und anthroposophischen Arzneimitteln, die einen festen Platz in der Beratung haben und behalten sollten. Gut etablierte Vorgehensweisen sollten keine Änderungen erfahren.
Notwendige Maßnahmen zur Sicherung der Arzneimittelversorgung
Mit Blick auf die nationale Gesetzgebung macht uns das kürzlich verabschiedete GKV-Finanzstabilisierungsgesetz zu schaffen. Es gefährdet die Versorgung der Patientinnen und Patienten mit innovativen und generischen Arzneimitteln und schadet dem Standort Deutschland. Wir werden uns die Auswirkungen genau ansehen; nicht zuletzt in Anbetracht des bis Ende 2023 vorzulegenden Berichts zu den revidierten sog. Leitplanken des Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes (AMNOG).
Angesichts der enorm gestiegenen und absehbar weiter steigenden Preise für Energie, Rohstoffe und Logistik ist eine kostendeckende Produktion für viele Arzneimittel schon heute nicht mehr möglich. Als essenziell betrachten wir daher Korrekturen bei den sozialrechtlichen Steuerungselementen. Insbesondere bei Arzneimitteln, die unter Fest- oder Rabattverträge fallen, ist ein Inflationsausgleich dringend erforderlich. Vom Preismoratorium erfasste Produkte sollte quartalsweise ein Inflationsausgleich gewährt werden. Offenbar wurde die Problematik im Bundesgesundheitsministerium mittlerweile erkannt. Ein Gesetzesentwurf für eine bessere Versorgung im generischen Markt soll Anfang 2023 vorgelegt werden. Ein wirksamer Effekt wird von einer sachorientierten Ausgestaltung der politischen Absichtserklärungen abhängen.
Zum Schluss einige anerkennende Worte zu einer neuen Initiative des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz zur Stärkung der Gesundheitswirtschaft in Deutschland. Diese wurde im Rahmen einer Auftaktveranstaltung am 23. Nov. 2022 von Bundesminister Robert Habeck offiziell gestartet. Mit dem Round Table Gesundheitswirtschaft wird ein gemeinsames Dialogformat mit den Repräsentanten der Arzneimittel- und Medizinprodukteindustrie etabliert. So soll erörtert werden, wie die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen gestärkt, die Standortbedingungen in Deutschland verbessert und die industrielle Gesundheitswirtschaft sichtbarer gemacht werden kann.
Eine forschungs- und damit kostenintensive Branche wie die Arzneimittelindustrie mit z. T. sehr komplexen und langen Planungszyklen braucht weniger Belastungen und Regulierung, sondern mehr Anreize. Das Format erstreckt sich über die gesamte 20. Legislaturperiode und soll Wissensaustausch und konstruktiven Dialog ermöglichen, Maßnahmen identifizieren sowie Lösungsvorschläge erarbeiten und auf den Weg bringen. Auch im Sinne der Vermeidung unnötiger Bürokratie soll effizient und zielorientiert gearbeitet werden. Der BAH wird sich in die Beratungen intensiv einbringen und verbindet dieses Engagement mit der Hoffnung – aber auch Erwartungen –, zu einer spürbaren Verbesserung des Umfelds für die Arzneimittelhersteller zu gelangen.
pharmind 2023, Nr. 1, Seite 1