Das Generika-Paradox: vom Volk gefordert, von der Politik torpediert
Dr. Lucas Schalch |
Vor einem Jahr hatten wir an dieser Stelle von der erfolgreichen Abwehr des Referenzpreissystems für Generika berichtet. Nach dem Nationalrat lehnte auch der Ständerat – die Vertretung der Kantone – Ende 2021 diesen Vorschlag mit 24 zu 17 Stimmen bei 2 Enthaltungen ab und forderte stattdessen, mehr Generika zu verkaufen und nicht die Preise zu senken. In diesem Zusammenhang sollte der Missstand behoben werden, dass Ärzte und Apotheker mehr daran verdienen, wenn sie Originalpräparate abgeben anstelle von Generika. Diese Entscheidung ließ die Generikaindustrie nach jahrelangem Kampf gegen ein Referenzpreissystem aufatmen – doch nur für kurze Zeit. Das Parlament ließ nämlich mit der Möglichkeit von Einsparungen auf Verordnungsebene das Hintertürchen für weitere Angriffe auf Generikapreise offen. Diese Option hat das Bundesamt für Gesundheit (BAG) aufgegriffen und fordert mit Verweis auf die Kostenentwicklung im Bereich der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP) im Rahmen der Vernehmlassung vom 8. Juni dieses Jahres neue Maßnahmen zur Medikamentenkostensenkung auf Verordnungsebene ein. Demnach sollen bei den Generika und Biosimilars die Einsparungen nochmals erhöht werden.
Patentabgelaufene Medikamente – das falsche Ziel
Wie ein Referenzpreissystem hätten solche Maßnahmen fatale Konsequenzen – vor allem für die Versorgungs- und Patientensicherheit. Schon heute hat die Verantwortung der Hersteller für die Versorgungssicherheit mit Arzneimitteln in einem Umfeld von mittlerweile absurd tiefen Preisen keinen Platz mehr. Medikamente der Grundversorgung kosten z. T. weniger als ein Päckchen Kaugummi. Weshalb sich das BAG gerade auf die Preissenkung bei den Generika versteift, ist absolut nicht nachvollziehbar, sind diese patentabgelaufenen Arzneimittel doch nur für einen Bruchteil der Medikamentenausgaben in der Schweiz verantwortlich. Basierend auf dem Fabrikabgabepreis machen die Generika und Biosimilars per Ende 2021 gerade mal 15,7 % des gesamten Medikamentenmarktes aus. Zudem tragen laut einer Studie von Curafutura, dem Verband diverser Krankenversicherer, die patentabgelaufenen Medikamente von allen Arzneimitteln den geringsten Anteil zum Kostenanstieg bei. Warum also setzt das BAG die Versorgungssicherheit aufs Spiel mit einem Marktsegment, das unwesentlich zur Gesundheitsexplosion beiträgt? Die Konsequenzen einer solchen Politik sind verheerend. Als Folge des über Jahre anhaltenden Preisdumpings fallen wichtige Medikamente und Wirkstoffe unweigerlich aus dem Markt. Hinzu kommt, dass ihre Originalpreise vor 15 oder gar 30 Jahren festgelegt wurden und seither die Generikapreise mit kontinuierlichen Abschlägen konfrontiert sind. Diese fatale Preiserosion bestätigt die Studie von bwa consulting, Bern: „Für das Jahr 2021 betragen die täglichen Therapiekosten für Generika im Mittel 68 Rappen zu Erstattungspreisen und liegen damit tiefer als vor zehn Jahren. Dieser Trend schlägt sich auch im Preisindex für kassenzulässige Generika nieder. Zum Basisjahr 2003 sind die Preise um 42.2 Prozent gesunken, eine Entwicklung, die beinahe für alle wichtigen Generikamärkte zutrifft.“
Immer mehr lebensnotwendige Medikamente fehlen
Diese zutiefst besorgniserregende Entwicklung belegen auch die Untersuchungen von Enea Martinelli, Chefapotheker der Berner FMI-Spitalgruppe und Vizepräsident des Verbands Pharmasuisse. Laut der von Martinelli betriebenen Datenbank fehlten Ende Okt. 913 Medikamente, was ein Rekordwert darstellt. Selbst im Vergleich zur Pandemiesituation fehlen heute sogar 20 % mehr Wirkstoffe. Der zunehmende Medikamentenmangel wird sogar durch das Monitoring des Bundes für die Versorgung mit lebensnotwendigen Medikamenten bestätigt. Und das Bundesamt kommt denn auch zum Schluss: „Die Versorgung mit Arzneimitteln in der normalen Lage kann in der Schweiz seit längerer Zeit nicht mehr in allen Fällen sichergestellt werden.“ Und wenn, sei es nur mit großem Mehraufwand der betroffenen Fachpersonen, der Apotheker und Hausärzte, möglich.
BAG torpediert Grundversorgung durch Preisdruck
Paradoxerweise verschärft das Bundesamt für Gesundheit aber gerade jetzt in dieser kritischen Versorgungslage den Preisdruck auf die bewährten, günstigen Arzneimittel der Grundversorgung. Gegen den Willen des Parlaments gefährdet die Verwaltung mit einem Billigstsystem und einem toxischen Mix unüberprüfter Maßnahmen die Grundversorgung mit bewährten, preisgünstigen Generika, die direkt zu tieferen Prämien führen. Wir beurteilen die geplanten Verordnungsänderungen Krankenversicherungsverordnung/Krankenpflege-Leistungsverordnung (KLV/KVV) als ein gefährliches Experiment in Krisenzeiten, wo sich große Lieferengpässe im Medikamentenmarkt bereits zur bedrohlichen Versorgungskrise entwickeln. Die Folgen sind irreversibel – möglicherweise auch bei den betroffenen Patientinnen und Patienten.
Das Schweizer Volk fordert Generika
So finden wir in der Schweiz eine bizarre Lage vor: Anders als das BAG, das mit dem Preisdumping die Gefährdung der Versorgung von Patientinnen und Patienten in Kauf nimmt und zudem den Generikaherstellern das Wasser abgräbt, wissen die Schweizerinnen und Schweizer den Wert von Generika zu schätzen. In einer von Intergenerika in Auftrag gegebenen Straßenbefragung bringen die Befragten ihre Sympathien für Generika zum Ausdruck, wobei die angeblich zu hohen Preise von ihnen nicht thematisiert werden. So verwundert es auch nicht, dass laut einer von Santésuisse, dem Branchenverband der Schweizer Krankenversicherer, in Auftrag gegebenen Studie 94 % der Bevölkerung fordern, dass Arztpraxen und Apotheken Generika statt Originalpräparate abgeben, um Kosten zu sparen.
Klare Ziele von Intergenerika unter neuer Führung
Die hohe Akzeptanz von Generika und Biosimilars in der Schweizer Bevölkerung werten wir bei Intergenerika als klaren Auftrag, uns im Schulterschluss mit zentralen Akteuren im Gesundheitswesen mit aller Kraft für die Ausweitung der Marktanteile von Generika und Biosimilars und gegen weitere Preissenkungen über den Verordnungsweg einzusetzen. Wir sind angetreten, die Marktanteile dieser patentabgelaufenen qualitativ hochwertigen Medikamente signifikant zu erhöhen, um so den Sparbeitrag von 1 Mrd. Franken jährlich noch weiter zu steigern. Unter meinem Vorgänger Dr. Axel Müller hat der Verband mit der Abwendung des schädlichen Referenzpreissystems ein wichtiges Etappenziel erreicht. Seit dem 1. Nov. 2022 als Intergenerika-Geschäftsführer im Amt werden wir unter meiner Führung zukünftig noch stärker in die Offensive gehen und aktiv die Konsumenten bzw. Patienten in unsere Bewegung mit einbeziehen. Neben allen anderen relevanten Stakeholdern werden wir die Schweizer Bevölkerung, für deren Wohl wir uns schlussendlich stark machen, aktiv über die unschlagbaren Vorteile von Generika und Biosimilars informieren. Denn nur bei entsprechender Bekanntheit und Kenntnis kann der „Pull-Effekt“ – also die aktive Nachfrage nach Generika und Biosimilars seitens der Bevölkerung – ausgelöst werden und seine volle Wirkung im Sinne der weiteren Steigerung des effektiven Sparbeitrags entfalten.
Fazit und Ausblick 2023
Die Generikaindustrie will ihren Beitrag zu tiefen Gesundheitskosten weiterhin leisten, lehnt aber ruinöses Preisdumping rigoros ab. Die regelmäßigen Preisüberprüfungen bringen jährlich wiederkehrende Einsparungen von 1 Mrd. Franken. Die vom Parlament 2021 gutgeheißene Lösung mit einem neuen Vertriebsmargensystem und zusätzlichen Preisabschlägen war ein sehr breiter, mehrheitsfähiger Konsens, den nebst der Pharma Versicherer, Ärzte und Apotheker und Konsumentenorganisationen mittrugen. 2023 wird ein Jahr intensiver Auseinandersetzungen werden – zwischen dem Lager, welches den Druck auf die Preise von Generika und Biosimilars weiter erhöht und der breiten Allianz aus Akteuren des Gesundheitssystems, welche die Preise für die patentabgelaufenen Medikamente heute schon auf einem gefährlichen Tiefpunkt sieht, Preisdumping ablehnt und stattdessen die konzertierte Förderung dieser qualitativ hochwertigen Arzneimittel fordert.
pharmind 2023, Nr. 1, Seite 9