Lauterbachs Gesundheitspolitik: Unvernunft und Vorurteil
Dr. Kai Joachimsen |
Die Zeiten sind schwierig, der Pharmastandort Deutschland ist ernsthaft in Gefahr und damit auch die Arzneimittelversorgung.
Schon vor dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine litt die pharmazeutische Industrie unter gestörten Lieferketten und stark steigenden Kosten. Einer der Gründe hierfür ist die Abhängigkeit in der Beschaffung von Wirk- und Hilfsstoffen von wenigen Produzenten in Asien (China, Indien). Diese Entwicklung wurde maßgeblich durch die teils ruinösen Rabattvertragsregelungen der vergangenen Jahre in Deutschland vorangetrieben, die eine hiesige Arzneimittelproduktion oftmals nicht mehr zulassen. Die dramatisch angestiegenen Kosten für Energie, Roh- und Grundstoffe sowie die steigende Inflation führten zu inzwischen bedrohlichen finanziellen Belastungen der Unternehmen, was wiederum weitere Lieferengpässe begünstigte.
Unbeirrt dessen hat der Bundestag das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz beschlossen. Trotz erheblicher Widerstände im Bundesrat – insbesondere zum Thema der Arzneimittelversorgung – und heftiger Kritik von uns und allen Stakeholdern im Gesundheitswesen, einschließlich der Krankenkassen. Wir haben vielfältig verdeutlicht, dass dieses Gesetz seinen Namen nicht verdient. Im Gegenteil: Es führt zur Destabilisierung der Gesundheitsversorgung und schwächt insbesondere den Pharmastandort nachhaltig und erheblich. Besonders absurd: Trotz alledem erreicht das Gesetz noch nicht einmal das Ziel hinreichender Einsparungen.
Falsche Annahmen
Die in dem Gesetz zugrunde liegende Annahme, dass mit einem singulären Blick auf die Ausgaben im Jahr 2021 überproportional steigende Arzneimittelausgaben an den GKV-Defiziten zentral verantwortlich seien, ist schlicht faktisch falsch. Der Anstieg der GKV-Ausgaben geht zu 75 % auf Ausgabensteigerungen im Bereich Krankenhaus und ärztliche Leistungen und auf eine Flut an versicherungsfremden Leistungen zurück, welche die GKV insbesondere während der Pandemie hat tragen müssen. Auch hier ist der Staat seiner Verantwortung in der Daseinsfürsorge nicht gerecht geworden, sondern hat der GKV immer mehr Leistungen aufgebürdet.
Der einseitige Fokus auf die Preisbildung bei Arzneimitteln übersieht die Ausgabensteigerungen aufgrund anderer Faktoren, wie einer alternden Bevölkerung, einer steigenden Anzahl an Versicherten und entsprechend wachsender Verordnungszahlen sowie gestiegener medizinischer Möglichkeiten durch Innovationen. Auch die Arbeitslosengeld-II-Thematik und die Belastung der GKV mit eigentlich versicherungsfremden Leistungen (COVID-Tests usw.) sind hier zu nennen. Ganz zu schweigen von den Kosten, die durch den vollkommen inakzeptablen Digitalisierungsgrad unseres Gesundheitswesens entstehen, oder die verfahrene Situation im Krankenhausbereich.
Kurzum: Wir müssen die wahren Kostentreiber im Blick haben. Und dabei bedenken: Der Arzneimittelanteil an den GKV-Leistungsausgaben liegt seit Jahren kontinuierlich bei 11 %. Objektiv gab es also keinen Grund, die pharmazeutische Branche so zu belasten. Die beschlossenen Sparmaßnahmen sind zudem mit Blick auf unseren Kostenanteil in keinster Weise systemrettend. Aber sie sind systemgefährdend, wenn man die Lasten heranzieht, die unsere Branche bereits schultert.
Denn die pharmazeutische Industrie unterliegt bereits seit rund 12 Jahren einem rigiden Preisstopp. Kostensteigerungen können die Hersteller kaum weitergeben. Preisgrenzen wirken in den übrigen Bereichen über Fest- und Erstattungsbeträge sowie über Rabattverträge. Der auf retrospektiver Basis erst seit 2018 mögliche Inflationsausgleich gilt im Ergebnis nur für wenige Arzneimittel und kann überdies die krisenbedingte Kostenexplosion bei Weitem nicht ausgleichen.
Nichts gelernt
Was bei all dem wirklich wundert, ist die politische Kurzsichtigkeit des Gesetzes: Die Einsparungen im Pharmabereich sind rein rechnerisch ein Tropfen auf den heißen Stein namens GKV-Finanzdefizit. Die Erhöhung der Beiträge reicht zweifellos nicht, um das Gesundheitssystem langfristig auf solide Füße zu stellen. Und gleichzeitig vergrätzte der Bundesgesundheitsminister mit diesen Maßnahmen neue, innovative Unternehmen, stieß dem Mittelstand vor den Kopf und machte die pharmazeutische Industrie in seinen Reden zum großen Gewinner der Krise – wohlwissend, dass kaum ein Unternehmen profitiert hat.
Prof. Lauterbach wollte die Finanzierung der GKV stabilisieren und blendete dabei die wesentlichen Ursachen für die Schräglage aus, in der das System bereits seit Jahren liegt, und die tatsächlich auch nicht in seiner Verantwortung lagen. Was dieses Gesetz hingegen erfolgreich schaffen wird, ist die fortgesetzte Deindustrialisierung Deutschlands im Pharmabereich. Denn es beschädigt durch die unüberlegten Änderungen des Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes (AMNOG) ein grundsätzlich funktionierendes System, das Innovationen zulässt und gleichsam Ausgaben senkt. Auch die so wichtige Förderung der Forschung an Therapien zur Bekämpfung seltener Krankheiten wurde durch das Gesetz erneut geschwächt – wenn auch zum Glück nicht in dem Umfang, wie ursprünglich vorgesehen. Letztlich ist Lauterbach aber nicht allein verantwortlich für dieses Gesetz; andere Regierungsfraktionen, die dieses Gesetz durchgepaukt haben, waren erstaunlich still. Das verwundert. Und insbesondere verwundert, dass Innovationen ohne attestierten Zusatznutzen (aber sehr wohl wichtigen Eigenschaften als Therapiealternative) künftig eine geringere Erstattung bekommen. Fördert man so Forschung und die Stärkung von therapeutischer Vielfalt, die ja stets gefordert wird?
Ist es außerdem nicht erst wenige Monate her, dass Politiker allerorts die Abhängigkeit von asiatischer Pharmaproduktion zurecht angeprangert haben und die Innovationen der letzten 2 Jahre lobten? Fordert nicht auch der Koalitionsvertrag konkrete Maßnahmen zur Stützung der Gesundheitsversorgung mit viel weitreichender Unabhängigkeit von anderen Ländern und Regionen? Wir müssen endlich in der Gesundheitspolitik strategische Ziele definieren, wie z. B. ein hohes Maß an Versorgungssicherheit, den raschen Zugang für die Patienten zu innovativen, passgenauen und sinnvollen Therapien und eine starke Produktion ohne Erpressbarkeiten. Und ja, das wird in manchen Bereichen Mehrkosten verursachen.
Bei jedem anderen Sektor wird die gesamtökonomische, die volkswirtschaftliche Komponente betrachtet – nicht so im Gesundheitssektor. Wer bessere Gesundheit schafft, der bereitet damit auch den Weg für eine erfolgreichere Volkswirtschaft. Gesundheitskosten sind eine Investition in die Zukunft.
Kehrtwende (?)
Mit Beginn der Adventszeit besann sich Prof. Lauterbach augenscheinlich auf die aktuelle Lage – zumindest mit Blick auf die Generikaversorgung. Die Ökonomie sei hier „zu weit getrieben worden“. Ein neues Gesetz solle den „ökonomischen Druck“ von den Kassen (!) nehmen, immer nur den günstigsten Anbieter zu bezuschlagen. Bei Redaktionsschluss waren die Eckpunkte der geplanten Reform noch nicht bekannt. Doch die Erkenntnis lässt verhaltene Zuversicht einkehren.
Auch das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) hat offenbar verstanden, dass Pharma ein Gesundheits- und Standortfaktor ist. Der BPI sitzt mit am Tisch eines neu einberufenen „Roundtable Gesundheitswirtschaft“. Erklärte Ziele sind die gemeinsame Erarbeitung sowohl kurzfristig realisierbarer Maßnahmen als auch die Verständigung auf mittelfristige Handlungsfelder für Standortbedingungen. Die konkreten Themenvorschläge sind: Stärkung des Standortes Deutschland, Sicherung der Versorgung, Translation Forschung zu Produktentwicklung, klimagerechte Gesundheitswirtschaft und Resilienz bzw. strategische Unabhängigkeit. Hier scheint jemand die Zeichen der Zeitenwende in Taten umsetzen zu wollen. Wir bringen uns gerne und konstruktiv in diese Runde ein.
Lösungen auf dem Tisch
Vorschläge haben wir bereits vor längerer Zeit eingebracht und betont: Es muss die Möglichkeit geschaffen werden, europäische Produktion bei der Vergabe von Rabattverträgen besonders zu honorieren, ohne den Zugang für Anbieter aus Drittstaaten einzuschränken. Das Risiko für Lieferengpässe wäre geringer, wenn es grundsätzlich erst Ausschreibungen für Arzneimittel geben darf, wenn mindestens 4 Anbieter im Markt sind und zudem die Krankenkassen an mindestens 3 Anbieter Zuschläge erteilen müssen, von denen mindestens einer den Standort seiner Produktionsstätte in der EU nachweisen muss. Bisher hat die Politik sie leider noch nicht umgesetzt. Ein strategisches Bekämpfen von Ursachen, etwa durch eine Stärkung der Anbietervielfalt, bietet für eine verlässliche Arzneimittelversorgung im Jahr 2023 und darüber hinaus jedenfalls eine bessere Aussicht auf Erfolg als zum Scheitern verurteilte „Finanzstabilisierungsgesetze“.
pharmind 2023, Nr. 1, Seite 3