Europa im Rückstand?
Warum die pharmazeutische Industrie vom Spielfeld auf die Ersatzbank gezwungen wird
Mag. Alexander Herzog |
Wer nicht auf dem Platz steht, schießt keine Tore
Buhrufe und Jubel wird es 2024 gleichermaßen und in allen Teilen Europas geben. Dann nämlich, wenn Fußballfans die Europameisterschaft feiern. Wer dabei nicht im öffentlichen Fokus stehen wird, ist der Rasen bzw. das Spielfeld. Wiewohl dieses eine wichtige Voraussetzung für ein gutes Spiel ist. Schließlich nimmt es je nach Beschaffenheit und Wetterlage Einfluss auf den Spielverlauf. Das Spiel selbst erscheint wichtiger als der Boden, auf dem es stattfindet. Aber der Erfolg hängt vom Zusammenwirken aller Faktoren ab. Und das gilt nicht nur für ein Fußballspiel, sondern auch für den Standort Europa. Wie, das möchte ich im Detail beleuchten.
Schwieriges Spielfeld
Bleiben wir beim Fußball-Vergleich, könnte man sagen, dass der Standort Europa in den letzten Jahren einiges an Attraktivität als „Spielfeld“ eingebüßt hat. Denn es wird hier für Branchen wie etwa die pharmazeutische Industrie immer schwieriger, den Ball zu spielen und damit Tore zu erzielen, also z. B. neue Therapien zu entwickeln, Arbeitsplätze zu schaffen, in Forschung und Entwicklung zu investieren und damit einen Beitrag zur Wettbewerbsfähigkeit Europas zu leisten.
Nehmen wir Österreich als Beispiel. In unserem Land wurden die Preise bei den Arzneimitteln über Jahre hinweg gedrückt. Doch wenn sich die Preisspirale über Jahrzehnte hinweg nur nach unten bewegt, dünnt sich der Arzneimittelschatz sukzessive aus. Noch dazu setzt der Kostenanstieg bei Energie, Transport, Löhnen, Gehältern und Rohstoffen alle Unternehmen in Österreich unter Druck. Doch was in anderen Branchen üblich ist, ist dem Pharmasektor verwehrt, nämlich die Weitergabe erhöhter Kosten an die Konsumentinnen und Konsumenten durch das Anheben der Produktpreise.
In Vielfalt uneins
Europa als Kontinent und z. T. als Staatenbund mit all seinen unterschiedlichen Regeln, Normen und Partikularinteressen verzeichnet von Haus aus schon mehr Ähnlichkeiten mit einem Hürdenlauf als mit einem glatten, ebenen Fußballfeld. Die Ausgangslage: 27 unterschiedliche EU-Länder und jedes davon mit einem anderen Gesundheitssystem, speziell hinsichtlich dessen Finanzierung und der Preis- und Erstattungsregelungen. Das macht es per se schon mal schwierig, sich mit vereinter Kraft gegenüber anderen Regionen der Welt zu behaupten. Vielfalt ist gut, aber kann eben doch auch ein Hindernis sein.
Bei allen Unterschieden sichert das Engagement der pharmazeutischen Industrie europaweit 2,5 Millionen Arbeitsplätze und leistet mit jährlichen Investitionen von 42 Milliarden Euro in die europäische Forschung und Entwicklung gewaltige Beiträge zur Handelsbilanz der EU. Inwieweit das auch in Zukunft möglich sein wird, hängt mit den zukünftigen Rahmenbedingungen, also den neuen „Spielregeln“ zusammen, die jetzt im Zuge der EU-Pharma-Gesetzgebung adaptiert werden sollen.
Spielregeln sind entscheidend
Im Vorjahr wurde die mehr als 20 Jahre alte EU-Arzneimittel-Gesetzgebung einem Überarbeitungsprozess unterzogen: Grundsätzlich ist das eine gute Idee und viele Punkte des Entwurfs der EU-Kommission sind begrüßenswert. Aber sicher nicht alle. Was mit der Überarbeitung erzielt werden soll, ist begrüßenswert: die Verbesserung der Arzneimittelversorgung, Ungleichheiten im Zugang zu neuen Medikamenten auszuräumen, die Entwicklung neuer Präparate anzukurbeln und die heimische Industrie wettbewerbsfähig zu halten. Was dabei helfen kann, sind z. B. administrative Erleichterungen, die Beschleunigung von Zulassungen, ein verschlankter Verwaltungsaufwand oder auch die elektronische Packungsbeilage. À la longue ermöglicht das, auch kleinere Produktanpassungen unbürokratischer zu machen. Doch wie anwendbar sind die dafür vorgesehen „Spielregeln“ eigentlich?
Kein Fair Play
So unterstützenswert die übergeordneten Ziele in der Arzneimittelreform sind, ihre Ausgestaltung im Detail birgt einige Unwägbarkeiten. Manche Vorschläge sind sogar so restriktiv gestaltet, dass sie, anstatt die Versorgung zu verbessern, das Gegenteil bewirken. Dazu zählen z. B. überbordende Bevorratungs- oder Meldepflichten. Wie soll z. B. ein pharmazeutisches Unternehmen 6 Monate im Vorhinein einen Lieferengpass melden, wenn dieser aus Unwägbarkeiten in der Lieferkette oder aus einem nicht vorhersehbaren Infektionsgeschehen und einer damit verbundenen plötzlich steigenden Nachfrage entsteht, wie es vor 1 Jahr der Fall war? Ja, wir alle wollen eine abgesicherte Versorgung mit Arzneimitteln. Aber nicht mit unrealistischen Vorgaben. Auf nationaler Ebene würden viel mehr faire Preise die Situation stabilisieren. Das würde das Spiel am Standort beleben und Impulse liefern, damit die Entwicklung oder auch die Produktion von Medikamenten wieder wirtschaftlich attraktiver wird.
Steine im Schuh
Europas geplante Anreize für die Medikamentenentwicklung erweisen sich bei genauer Betrachtung als Hindernis für die Forschung. Die Verkürzung des Unterlagenschutzes in der Europäischen Union sollte den Zugang zu Medikamenten verbessern, könnte jedoch das Gegenteil bewirken – weniger Engagement in der Arzneimittelforschung. Trotz des Einsatzes der Branche hat sich die Situation verschlechtert: Der Anteil Europas an klinischen Prüfungen im Bereich der Medikamentenentwicklung ist von etwa 30 % im Jahr 2011 bis 2020 auf 19 % gesunken.
Klinische Prüfungen bilden aber die Grundlage für Innovationen und ermöglichen den frühen Zugang zu neuen Medikamenten. Statt den Forschungsbereich zu stärken und die Teilnahme an Arzneimittelstudien zu fördern, droht Europa weiter ins Hintertreffen zu geraten. Die Anzahl der klinischen Prüfungen von neuartigen Therapien ist in den USA doppelt und in China fast dreimal so hoch wie in Europa. Dazu kommt, dass auch die Nutzung der Digitalisierung und Gesundheitsdaten zur Beschleunigung von Forschungserfolgen in Europa noch nicht etabliert ist. Das alles sind Steine in den Schuhen der Spielerinnen und Spieler und behindern den „Zug zum Tor“, wie man im Fußball sagt.
Spielverzögerung
Die Pläne der EU-Kommission lassen befürchten, dass neue Medikamente künftig viel langsamer auf den Markt kommen. Zudem werden Anreize an Vorgaben geknüpft, die nicht im Einflussbereich der Unternehmen liegen, z. B. die Forderung nach einer flächendeckenden Markteinführung in der EU innerhalb von 2 Jahren nach Produktzulassung, um den Unterlagenschutz verlängert zu bekommen. Doch wann ein Produkt im jeweiligen Land verfügbar gemacht werden kann, liegt nicht (nur) im Ermessen des jeweiligen Unternehmens, Stichwort Administration und Behörden. So ist die Industrie in lediglich 20 % der Fälle dafür verantwortlich, dass es zu Verzögerungen im Marktzugang kommt. Der Rest ist auf die unterschiedliche Geschwindigkeit der Behörden zurückzuführen. So richten pharmazeutische Unternehmen unweigerlich den Blick auf jene „Spielfelder“, die mit besseren Rahmenbedingungen punkten können. Und das ist dann nicht zwingend Europa.
Neue Gegner bereits in Stellung
Die Zeit drängt. Denn auch jetzt, am hoffentlich langsamen Ausklingen der Corona-Pandemie, können Europas Gesundheitssysteme noch immer nicht aufatmen. Es gilt, weiteren großen Herausforderungen zu begegnen. Dazu gehören vor allen Dingen auch Antibiotikaresistenzen. Sie stellen laut WHO eine immer größere Bedrohung dar. Eine stille Pandemie, die jährlich bis zu 10 Mio. Menschen das Leben kostet.
Wir brauchen Maßnahmen, die eine weitere Ausbreitung der Resistenzen verhindern. Gleichzeitig müssen ganz neue Arten von Medikamenten entwickelt werden. Die können aber nur durch Forschung entstehen. Dabei gleicht die Entwicklung eines Medikaments ohnehin schon einem Marathonlauf mit vielen Hürden und auch Rückschlägen. Es ist daher an der Zeit, zu entscheiden, in welcher Art von Europa wir leben wollen. Wollen wir ein globaler Standort für Forschung, Entwicklung und Herstellung von Arzneimitteln sein? Oder möchten wir lieber von medizinischen Innovationen und Produkten aus anderen Regionen abhängig sein? Das wird 2024 eine der brennendsten Fragen sein – abseits der Fußball-Europameisterschaft.
pharmind 2024, Nr. 1, Seite 10