Standortorientierte Reformen sind ohne Alternative
Henning Fahrenkamp |
Die Gesundheitspolitik der letzten Legislatur war eines: tatenreich. Eine gut aufgestellte Wirtschaft, hohe und steigende Beschäftigungsquoten sowie volle Haushaltskassen haben es der Bundesregierung und insbesondere Gesundheitsminister Hermann Gröhe leichter gemacht, sicherlich notwendige, aber auch kostenintensive Strukturreformen durchs Parlament zu bringen. Auch Verbesserungen, etwa für Ärzte und Apotheker, hat es gegeben. Diese Ausgabepolitik wird dazu führen, dass es an anderer Stelle in der Gesundheitsversorgung Abstriche geben wird. Und wo traditionell gespart wird, wurde der Sparkurs fortgesetzt: bei der Erforschung, Entwicklung und Produktion von Arzneimitteln und Medizinprodukten. Das ist jedoch fatal, denn die Kluft zwischen Versorgung nach Schema F und patientenorientierter Therapie wächst weiter. Die Strukturdefizite in der Gesundheitsversorgung dürfen nicht auf Kosten der Arzneimittel angegangen werden, zumal die jahrelangen Kassenüberschüsse Spielraum für nachhaltigere Lösungen lassen.
Sicher, es hat auch richtige gesetzliche Regelungen gegeben. Die Maßnahmen im AMVSG zur Sicherstellung der Versorgung mit Antibiotika, die Möglichkeit einer erweiterten Preisreferenzierung im Rahmen der Verhandlungen über Erstattungsbeträge insbesondere zu chronischen Indikationen und Verbesserungen im Festbetragssystem für Kinder-Arzneimittel sind solche. Erstmals wird auch anerkannt, dass Weiterentwicklungen auf Basis bewährter Wirkstoffe eine wichtige Rolle für die Sicherung der Arzneimittelversorgung spielen. Der BPI hatte immer wieder darauf hingewiesen, welches Potenzial darin für die Versorgung der Menschen liegt. Doch dass gerade diese Produkte durch die Verlängerung des Preismoratoriums bis 2022 trotz Rekordergebnissen der GKV weiter geschwächt und gleichzeitig im Rahmen des derzeitigen Nutzenbewertungs- und Festbetragssystems nicht angemessen vergütet werden, ist symptomatisch für die Arzneimittelgesetzgebung. Das Preismoratorium ist dafür ein Beispiel: Es dauert nun, gerechnet ab Preisanker 01.08.2009 bis Ende 2022, fast dreizehneinhalb Jahre. Das ist inakzeptabel, da hilft auch nicht der lange überfällige Inflationsausgleich. Durch derart regelhafte Fehler im System wird riskiert, dass der Zugang zu innovativen Arzneimitteln für Patienten immer häufiger erschwert ist und vermehrt neue Präparate für die Versorgung der Menschen in Deutschland gar nicht mehr zur Verfügung stehen, von Lieferengpässen ganz zu schweigen. Das liegt aber nicht in der Verantwortung der Hersteller, sondern ist Ergebnis einer kurzsichtigen Kostendämpfungspolitik. Vor allem standortgebundenen, mittelständischen Firmen wird es immer schwerer gemacht, sich im globalen Markt zu behaupten. Dabei brauchen wir am Standort nichts mehr als verlässliche Rahmenbedingungen, um uns von ausländischen Wirk- und Hilfsstoffherstellern unabhängiger zu machen. Das dient nicht zuletzt auch dem Schutz unserer hohen Arzneimittelsicherheit und beugt Lieferproblemen vor. Eine nachhaltige Gesundheitspolitik muss daher unbedingt darauf abzielen, den Produktions- und Innovationsstandort Deutschland zu stärken, so dass die Patientinnen und Patienten hierzulande auch zukünftig die bestmögliche und nicht die preisgünstigste Therapie erhalten.
Therapieentscheidungen gehören in die Hände von Ärzten und Patienten
Diese Einsicht scheint aber in der Politik nicht überall angekommen zu sein. Für eine der folgenschwersten Regelungen im Gesetz halten wir die Ausgestaltung des Arztinformationssystems. Wenn die Rechtsverordnung des Bundesgesundheitsministeriums hier nicht eindeutige Regelungen trifft, öffnet sie der Therapiesteuerung durch den GKV-SV Tür und Tor. Dem aufmerksamen Beobachter dürfte nämlich nicht entgangenen sein, was deren Vorschlag für eine Software, die hinterlegte Patientendaten mit einer Verordnung abgleicht, die die Wirtschaftlichkeitsprüfung für die Ärzte erledigt und die den Preis an das Nutzenausmaß von Patientensubgruppen koppelt – wenn das Ganze dann vom Arzt dokumentiert und codiert wird – bedeutet: Therapiesteuerung at its best! Wir sind überzeugt, dass Therapieentscheidungen in die Hände von Arzt und Patient gehören, und zwar ganz alleine in deren Hände! Ärzten die Informationen über den Zusatznutzen neuer Arzneimittel strukturiert und übersichtlich im Rahmen ihrer Praxissoftware zugänglich zu machen, ist sinnvoll. Wir unterstützen das und wollen, dass dem Arzt das vollständige „Kartenmaterial“ zu Verfügung steht, um den geeigneten (Therapie)Weg zu finden. Es braucht daher ein ehrliches Informationsmodell, das nichts verändert, nichts redigiert und vor allem die Nutzenbewertungsbeschlüsse nicht interessenorientiert in einen Kontext einordnet, ohne dass der Arzt wüsste, welche Wertentscheidungen zugrunde gelegt worden sind. Die Informationen müssen dabei so neutral präsentiert werden, dass sie die Verordnungsfreiheit des Arztes nicht beeinflussen – so wie es im Pharmadialog verabredet war.
Mehr Lebensqualität ist kein Luxus
Apropos Pharmadialog: Eine neue Regierung, welcher Couleur auch immer, muss begreifen, dass Arzneimittel-Innovationen einen enormen Wert für Patienten haben. Seien es die Weiterentwicklung von Arzneimitteln mit bekannten Wirkstoffen oder neue Wirkstoffe: Sie werden entwickelt, um längeres Leben und Verbesserungen der Lebensqualität der Menschen zu bewirken. Neue Arzneimittel müssen eine faire Chance bekommen, sich im Versorgungsalltag zu etablieren, das AMNOG darf nicht primär Kostendämpfungsinstrument sein und Ärzte müssen ihre Therapiefreiheit behalten. Sie müssen im Interesse ihrer Patientinnen und Patienten aus der ganzen Vielfalt der Behandlungsoptionen schöpfen können. Alle Therapieformen leisten im individuellen Fall einen wichtigen Beitrag, der gewürdigt und honoriert werden muss. Hierbei geht es auch um den Aspekt der „Lebensqualität“, der immer noch zu wenig Beachtung findet. Pharmazeutische Unternehmen haben das längst verstanden und entwickeln ihre Produkte stetig weiter, um eine höhere Lebensqualität zu ermöglichen. Das ist kein Luxus und es geht übrigens nicht darum, ob ein Hustensaft bitter oder nach Erdbeere schmeckt sondern zum Beispiel darum, ob ein Patient statt zehn nur eine Tablette täglich schlucken muss. Oder ob ein Kranker einen „normalen“ Alltag leben kann oder sich alle drei Tage in ambulante Behandlung begeben muss. Das alles sind Aspekte, die weit darüber hinausgehen, ob ein Präparat beim Patienten überhaupt anschlägt. Und es sind Erfolge die entsprechend gewürdigt und auch im Rahmen der GKV-Erstattung honoriert werden müssen. Patientenorientierung darf keine Worthülse sein, sondern muss der Maßstab für notwendige Reformen in der Gesundheitsversorgung sein. Das finanzielle Polster zur Umsetzung solcher Reformen hat die letzte Koalition hinterlassen.
Selbstmedikation stärken
Das gilt auch für ein tragendes Standbein der Arzneimittelversorgung: die Selbstmedikation. Hier liegt die Entscheidung bei den Patienten, die Patientenorientierung ist ihr immanent und das muss so bleiben. Gerade die Selbstmedikation entlastet die GKV und zwar erheblich.
Die Selbstmedikation ist ein funktionierendes Marktsegment, für das der Gesetzgeber Marktmechanismen abseits der gesetzlichen Krankenversicherung vorgesehen hat und die als System in sich funktioniert. Selbstmedikation und durch die Arzneimittelpreisverordnung geregelte Arzneimittel sind daher zwei Sphären. Behauptungen zu einer „Quersubventionierung“ der Frei- und Sichtwahl durch verschreibungspflichtige Arzneimittel und daraus resultierenden Begehrlichkeiten der Kassen sind nachdrücklich zu widersprechen. Das etablierte System marktgerechter Preise zum Nutzen der Patienten gehört gestärkt!
Digitalisierung zwingt zum Umdenken
Last, not least muss die Gesundheitspolitik aber noch zukunftsfähiger werden. Die Digitalisierung zwingt zum Umdenken. Dazu gehört es unter anderem, die Versorgungsforschung neu zu denken: Die Industrie muss – selbstverständlich unter Wahrung der Persönlichkeitsrechte der Patienten – Routinedaten nutzen können, damit sie Produkte passgenauer auf die Patienten zuschneiden kann. Wir brauchen auch das Wissen über die Versorgung unter Alltagsbedingungen, um Medikamente noch sicherer machen zu können. Und wir können mit unseren Daten aus klinischen Studien, Registern oder der Pharmakovigilanz helfen, die Versorgung der Menschen zu verbessern. Dazu braucht es interoperable Netzstrukturen mit definierten Mindeststandards für einen fairen Wettbewerb. Wir appellieren an die neue Regierung, aus dem verheerenden Verlauf des Projektes der elektronischen Gesundheitskarte die richtigen Konsequenzen zu ziehen, und jetzt schnellstens die notwendigen Rahmenbedingungen für eine zukunftsfähige Gesundheitsversorgung zu schaffen.
Fakt ist: Das deutsche Gesundheitswesen ist weltweit eines der besten. Dies muss aber auch in Zukunft so bleiben. Standortorientierte Reformen sind daher ohne Alternative.
pharmind 2018, Nr. 1, Seite 3