Ohne Kompromisse: Arzneimittelversorgung zukunftsfähig machen

Dr. Martin Weiser · Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Arzneimittel-Hersteller e. V. (BAH)
Dr. Martin Weiser

„Ein Kompromiss, das ist die Kunst, einen Kuchen so zu teilen, dass jeder meint, er habe das größte Stück bekommen“, stellte Ludwig Erhard einst fest. Demokratie bedeutet, Kompromisse einzugehen. Doch dieses Mal fällt es nach einer Wahl besonders schwer, die Kuchenstücke so zu verteilen, dass sich jeder wiederfindet und letztlich eine Regierungsbildung möglich ist. Es bleibt zu hoffen, dass es bei den zu treffenden Entscheidungen im politischen Tagesgeschäft nicht um die größten Kuchenstücke gehen wird, sondern um Lösungen mit Weitblick. Denn gerade die Gesundheitsversorgung braucht klare Weichenstellungen für die Zukunft und nicht das Ringen um den kleinsten gemeinsamen Nenner.

Deutschland steht vor tiefgreifenden Veränderungen: Unser Land wird sich verändern. Zwei Megatrends dominieren die Entwicklung: der demografische Wandel mit niedrigen Geburtenraten und sinkender Sterblichkeit und ein Strukturwandel zulasten ländlicher Regionen. Der BAH hat in zwei Perspektivpapieren die wichtigen gesellschaftlichen Entwicklungen aufgezeigt, die ein Umdenken erforderlich machen. Bei der Beantwortung der anstehenden Kernfragen darf es keine Kompromisse geben: Wie kann die Leistungsfähigkeit des deutschen Gesundheitssystems erhalten bleiben? Wie kann die nachhaltige Versorgung mit Arzneimitteln gesichert werden? Und mit welchen Maßnahmen kann der Faktor Menschlichkeit im Gesundheitssystem der Zukunft gewahrt bleiben?

Mehr Selbstmedikation

Die Arzneimittelversorgung steht auf zwei Säulen: der ärztlichen Verordnung von zumeist verschreibungspflichtigen Arzneimitteln und der Selbstmedikation mit rezeptfreien Arzneimitteln. Bei der Linderung von Alltagsbeschwerden wird die Selbstmedikation künftig wichtiger werden. Das bedeutet, dass sich Ärzte stärker auf die Behandlung von Patienten mit schwerwiegenderen Erkrankungen konzentrieren können. Dies wirkt sich auch kostensparend auf das GKV-System aus.

Apotheken stärken

Vor-Ort-Apotheken sind bereits heute eine unverzichtbare Säule im Gesundheitssystem. Sie leisten in der heilberuflichen Beratung sowie mit Not- und Nachtdiensten eine bedeutende Funktion für die Versorgung der Patienten. Zukünftig rückt der Apotheker noch stärker ins Blickfeld. Er avanciert zum Lotsen im Gesundheitswesen.

Die Apotheke vor Ort muss daher gestärkt, ihre Existenzgrundlage darf nicht infrage gestellt werden. Mit Spannung bleibt daher abzuwarten, wie die künftige Regierung auf ein Gutachten aus dem Bundeswirtschaftsministerium zur Apothekenhonorierung reagieren wird.

Und bei Vielen ist anscheinend noch nicht angekommen, wie stark die Bedrohung aus dem Internet geworden ist. Der Begriff „Amazoned“ hat bereits Eingang in englischsprachige Wörterbücher gefunden und beschreibt Branchen, die durch den Onlinehandel zunächst bedroht und dann nahezu verschwunden sind. Dass die Vor-Ort-Apotheken insbesondere in ländlichen Regionen stark unter Druck stehen, hat der BAH frühzeitig erkannt. Wir setzen uns seit der Entscheidung des EuGH, dass ausländische Versandapotheken Rx-Boni gewähren dürfen, für ein Rx-Versandhandelsverbot ein.

Auch Entlassungen von Arzneimitteln aus der Verschreibungspflicht – sogenannte Switches – tragen dazu bei den Anspruch des Apothekers als heilberuflichen Berater zu fördern. Mit einer engen Begleitung durch die Apotheker bieten sie Chancen, indem sie das Gesundheitssystem entlasten und neue Spielräume für die Patientenversorgung schaffen.

Gemeinsame Therapieentscheidung

Neben der gezielten Förderung der Selbstmedikation ist der Umgang mit rezeptpflichtigen Arzneimitteln neu zu denken. Der Deutsche Gesundheitsmonitor des BAH hat ermittelt, dass sich heute fast jeder zweite Deutsche häufiger über medizinische Themen informiert als noch vor 2 bis 3 Jahren. Der informierte und eigenverantwortliche Patient möchte sich künftig mehr einbringen. Die „Verordnung“ einer Arzneimitteltherapie entwickelt sich hin zu einer gemeinsamen Therapieentscheidung. Der Arzt wird wie bisher die Verantwortung übernehmen und damit die Qualität der medizinischen Behandlung gewährleisten.

Innovation als Chance

Neue, individualisierte Therapieformen müssen gefördert werden. Dazu zählt etwa die Analyse von Erbanlagen und daraus abgeleitete Behandlungen. Auch die Digitalisierung schafft hier völlig neue Möglichkeiten. Gerade Patienten mit schweren Erkrankungen eröffnet sich die Chance auf Linderung ihrer Beschwerden und eine höhere Lebensqualität.

Gerade deshalb braucht es neue und flexible Erstattungsmodelle für Arzneimittel. Dafür muss die Nutzenbewertung eines Medikaments in Zukunft weiter gefasst werden. So sollte etwa berücksichtigt werden, wenn durch ein Medikament die Leistungsfähigkeit eines Erwerbstätigen erhalten oder wiedererlangt werden kann oder ältere Menschen durch den medizinischen Fortschritt nicht pflegebedürftig werden. Auch mögliche Folgekosten, die bei einer anderen oder keiner Therapie entstehen würden, sollten einbezogen werden.

Patientenrelevante Weiterentwicklungen

Auch die Weiterentwicklung bekannter Arzneimittel muss anerkannt und entsprechend honoriert werden. Dazu zählen innovative Darreichungsformen, veränderte Dosierungen und erweiterte Anwendungsgebiete – eine klare Antwort auf die demografische Entwicklung. Denn gerade für ältere Menschen können patientenrelevante Weiterentwicklungen nachhaltig zu einer Verbesserung der Lebensqualität beitragen – etwa, wenn Arzneimittel leichter oder seltener einzunehmen sind. Allerdings stehen zahlreiche Steuerungsinstrumente einer solchen patientengerechten Arzneimittelvielfalt entgegen. Insbesondere das Festbetragssystem hat großen Einfluss: Rund 75  % der Arzneimittelversorgung in Packungseinheiten unterliegen einem Festbetrag.

Und auch hier funktioniert das Prinzip des kleinsten gemeinsamen Nenners nicht: Viele Darreichungsformen werden über einen Kamm geschoren, obwohl es aus therapeutischer Sicht einer Differenzierung bedarf. Ein erster Schritt in die richtige Richtung wurde mit dem Arzneimittelversorgungsstärkungsgesetz getan: Kinderarzneimittel sollen nun verstärkt Berücksichtigung bei der Festbetragsgruppenbildung finden. Der nächste Schritt muss eine Überprüfung des Festbetragssystems sein. Eine grundlegende Reform sollte folgen.

Therapiefreiheit erhalten

Der Arzt muss über die für den Patienten aus medizinischer Sicht jeweils passende Therapie entscheiden können – ohne Unsicherheit, ob er bestimmte Arzneimittel überhaupt verordnen darf. Daher sollte die neue Regierung schnellstmöglich eine Klarstellung bezüglich der offenen Fragen, die das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg zum Mischpreis aufgeworfen hat, herbeiführen.

Auch beim derzeit in Planung befindlichen und von der neuen Bundesregierung per Verordnung umzusetzenden Arztinformationssystem (AIS) muss darauf geachtet werden, dass die ärztliche Therapiefreiheit vollumfänglich erhalten bleibt. Wir begrüßen es, dass Ärzte noch besser als bisher über den therapeutischen Stellenwert von Arzneimitteln informiert werden. So können sie eine noch zielgerichtetere Therapieentscheidung für den jeweiligen Patienten treffen. Bei der Entwicklung eines transparenten und umfassenden Arztinformationssystems ist folglich eine Vermischung von Arzneimittelinformation und Verordnungssteuerung zu vermeiden.

Brexit

Das Vereinigte Königreich wird zum 30. März 2019 aus der EU ausscheiden und damit für die EU-Mitgliedstaaten zu einem Drittland werden. Auch hier wird derzeit händeringend nach politischen Kompromissen gesucht. Die Zeit drängt: Der Brexit wird erhebliche Folgen für die Hersteller und somit auch für die Arzneimittelversorgung haben, wenn hier nicht im Vorfeld wichtige Entscheidungen getroffen werden. Der BAH hat für seine Mitglieder einen Leitfaden zum Handlungsbedarf beim Thema Brexit erstellt und führt intensive Gespräche mit Politik und Behörden auf europäischer und nationaler Ebene.

Fazit

Unsicherheit beherrscht derzeit die politische Landschaft. Dabei gilt es gerade jetzt, vernünftige Entscheidungen zu treffen, die langfristig wirken. Noch vertrauen nach Zahlen des Deutschen Gesundheitsmonitors des BAH mehr als zwei Drittel der Deutschen darauf, dass das deutsche Gesundheitswesen jedem eine ausreichende Versorgung garantiert – ob privat oder gesetzlich versichert. Fragt man jedoch danach, wie die Gesundheitsversorgung in zehn Jahren aussehen wird, gehen fast die Hälfte der Befragten von einer Verschlechterung aus. Es gibt also große Herausforderungen, um unser Gesundheitssystem zukunftsfest zu machen. Dem muss sich die neue Regierung stellen. Den kleinsten gemeinsamen Nenner zu suchen, wird hier nicht ausreichen.

pharmind 2018, Nr. 1, Seite 1