Statements der Verbände
Dr. Kai Joachimsen |
Das Jahr 2020 hat unsere Branche vor enorme Aufgaben und Herausforderungen gestellt. Als quasi über Nacht der erste Lockdown beschlossen wurde, haben wir uns sofort und vehement dafür eingesetzt, dass die pharmazeutische Industrie als systemrelevant anerkannt wird. Denn nie war die Bedeutung unserer Branche deutlicher sichtbar, als in diesen Pandemiezeiten.
Die Corona-Krise hat allerdings auch gezeigt, wo die Schwächen liegen. Die in der SARS-CoV-2-Arzneimittelversorgungsverordnung festgelegten Regelungen zur Abgabe von Arzneimitteln in Apotheken z. B. waren zwar richtig und notwendig, um die Versorgung der Bevölkerung zu ermöglichen. Zugleich hat sich aber gerade dadurch gezeigt, dass der Arzneimittelmarkt unter normalen Bedingungen überreguliert und bereits kaputtgespart ist.
Durch den seit Jahren vorherrschenden und starken Preisdruck entstand eine riskante Marktkonzentration insbesondere bei den Wirkstoffherstellern. Diese gefährdet die Liefer- und Versorgungssicherheit. Angesichts der (anhaltenden) Krisensituation muss die Politik endlich erkennen, dass das Kaputtsparen ein Ende haben muss. Es muss möglich sein, hierzulande eine solide Preisbasis und die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen. Erst dann können wir überhaupt darüber reden, Produktion zurückzuholen und uns unabhängiger von anderen Ländern zu machen. Dafür ist es notwendig, dass wir künftig in normalen Zeiten in die Ressourcensicherung investieren. So können wir im Krisenfall auf sich ändernde Bedingungen schnell reagieren und die Arzneimittelversorgung in Europa sichern. Die Pharmaunternehmen wollen ihren Beitrag dazu leisten. Sie brauchen aber entsprechende marktwirtschaftliche Rahmenbedingungen, weniger Kostendruck und mehr Planungssicherheit. Der immer stärker werdende ordnungsrechtliche Ansatz engt dagegen die Möglichkeiten der Unternehmen stark ein. Das wird die Wirtschaft gerade in Krisenzeiten weiter schwächen.
Komplexe Themen
Die Themen des Krisenjahres waren geprägt von Diskussionen über Standort, Produktion, Lieferengpässe und Rabattverträge. Als Sprachrohr der pharmazeutischen Industrie waren wir gefragt, deren Komplexität verständlich zu machen und unsere Sichtweise der Öffentlichkeit zu erklären. Die Politik haben wir mit konkreten Lösungsvorschlägen unterstützt. Im Rahmen der EU-Pharmastrategie haben wir uns für Standort- und Produktionsfragen stark gemacht. Gerade bei versorgungskritischen Arzneimitteln ist es sinnvoll, mittelfristig auch die Produktion zurückzuholen. Gleichzeitig sagen wir klar und deutlich: Die Globalisierung lässt sich nicht zurückdrehen. Das wäre auch nicht zielführend.
Wir kämpfen als Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie deshalb aktiv dafür, die noch vorhandene Produktion in Europa zu halten. Um das zu erreichen, braucht es einen klaren politischen Willen und Realitätssinn.
Unnötige Preis-„Diskussion“
Wie erwartet, kam von der Kassenseite inmitten der Krise das Thema Arzneimittelkosten aufs Tableau – wenngleich mit überschaubarer inhaltlicher Substanz. Eine Debatte über Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz(AMNOG)-Erstattungspreise reichen nicht für eine versuchte Skandalisierung. Spätestens im Laufe des kommenden Jahres wird das Thema aber mit Blick auf die Finanzierungssituation der Gesetzlichen Krankenkasse und die bevorstehende Wahl wieder anziehen.
Was muss passieren?
Um mit konkreten Vorschlägen ins Wahljahr zu starten, haben wir ein Positionspapier zur Diskussionsgrundlage erstellt, auf deren Basis sich der BPI mit der Politik und den Kostenträgern austauschen möchte. Konkret sind aus unserer Sicht folgende Schritte vonnöten:
Das Preismoratorium muss reformiert werden
Das Preismoratorium trägt maßgeblich zur Erosion des Deckungsbeitrags insbesondere generischer Produkte bei. Um den Produktions- und Innovationsstandort Europa (und insbesondere Deutschland) zu stärken, muss das Preismoratorium dringend reformiert werden – und zwar noch in dieser Legislaturperiode!
Ein Punktesystem für Europa
Die Arzneimittelproduktion in Europa ließe sich stabilisieren, wenn die Vergabebedingungen bei Rabattverträgen durch folgende Kriterien neu justiert würden: Um den europäischen Produktionsanteil mit einem einfachen, bürokratiearmen System zugänglich zu machen, schlagen wir daher vor, ein klares Punktesystem zu schaffen. Dafür werden zunächst verschiedene Kategorien für Produktionsabschnitte definiert. Diesen werden dann als Zahlenwert einzelne Punkte zugeordnet:
• | Herstellung Hilfsstoffe | 0 Punkte (nicht aus der EU) 1 Punkt (z. T. aus der EU) 2 Punkte(vollständig aus der EU) |
• | Herstellung Wirkstoff | 0 Punkte (nicht aus der EU) 2 Punkte (aus der EU) |
• | Bulkproduktion | 0 Punkte (nicht in der EU) 2 Punkte (in der EU) |
Im Ergebnis kann jedes Fertigarzneimittel zwischen null (sofern nur die Freigabe in der EU erfolgt, alle anderen Produktionsschritte aber außerhalb der EU) und 6 Punkte (alle Fertigungsanteile in der EU) erreichen. Um die Bedeutung der Hilfs- und Wirkstoffproduktion in Europa zu verdeutlichen sowie die Versorgung der Bevölkerung zu sichern, werden die entsprechenden Faktoren mit jeweils 2 Punkten doppelt gewichtet. Die einzelnen Punkte werden nach den vorgenannten Kategorien von den Zulassungsbehörden auf Basis von Zulassungsunterlagen zugeordnet. Dadurch ist gewährleistet, dass die Hersteller keine Offenlegung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen für einzelne Herstellungsschritte und zu einer amtlichen Zuordnung befürchten müssen. Streitigkeiten durch Selbsteinstufungen werden somit vermieden.
Mit der Forschung an bewährten Wirkstoff-Lieferketten sichern
Um die Lieferketten für bewährte (insbesondere: versorgungsrelevante) Wirkstoffe zu stabilisieren und die Produktion „Made in Europe“ zu stärken, muss der wirtschaftliche Stellenwert für Arzneimittel mit diesen Wirkstoffen für die Hersteller nachhaltig erhöht werden. Wir schlagen daher vor, pharmazeutische Unternehmen von Festbetrag und Preismoratorium für solche bewährten Wirkstoffe aus ihrem Produktportfolio für einen Zeitraum von 5 Jahren freizustellen, für die sie erfolgreich neue Anwendungsgebiete, Galeniken oder Darreichungsformen erschlossen haben.
Der Unterlagenschutz auf EU-Ebene ist auszuweiten
Der aktuell geltende Unterlagenschutz von maximal einem Jahr bei der kostenintensiven Entwicklung einer neuen Indikation für bewährte Wirkstoffe greift deutlich zu kurz. Eine Frist von 12 Monaten ist zu wenig für eine neue Indikation bei bekannten Stoffen, um eine klinische Studie zu refinanzieren. Um eine Rückverlagerung von Produktionsstätten nach Europa zu forcieren, könnte die EU-Richtlinie 2001/83/EG dahingehend geändert werden, dass Innovationen auf Basis bewährter Wirkstoffe, die in Mitgliedstaaten der Europäischen Union hergestellt und zu Fertigarzneimitteln verarbeitet werden, einen Unterlagenschutz von 5 Jahren erhalten.
Forschung und Entwicklung müssen stärker gefördert werden
Die Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag der 19. Legislaturperiode festgelegt, dass Deutschland den F&E-Anteil des BIP von derzeit 3 % bis 2025 auf 3,5 % anheben soll. Die Wirkstoffforschung wurde sogar explizit im Koalitionsvertrag erwähnt und u. a. eine „Dekade gegen den Krebs“ ausgerufen. All diese Maßnahmen (egal, ob noch in Planung oder bereits in der Realisierung) sind jedoch nicht ausreichend. Wir fordern daher neben einer regelmäßigen Konsultation der Industrie auf Ebene der Verbände folgende Maßnahmen: 1. Innovationsprinzip in der Gesetzesfolgenabschätzung formal anerkennen („Innovations-Check“), 2. Arzneimittelforschung und -entwicklung auf digitale Füße stellen, 3. der personalisierten Medizin eine Chance geben (Forscher, Kosten- und Leistungsträger müssen sich hierfür – gemeinsam mit den Herstellern, Patientenvertretern und den Zulassungsbehörden – frühzeitig offen austauschen) und 4. das Forschungspotenzial neuer pflanzlicher Arzneimittel durch Sonderregelung anerkennen (z. B. durch Anpassung des AMNOG).
Fazit
Das verflixte Corona-Jahr war kein gewöhnliches für uns alle. Aber es gibt eine Zeit nach Corona. Jetzt ist der Zeitpunkt, in Berlin und Brüssel politisch zu handeln. Dabei geht es nicht darum zu beschränken, sondern zu befördern. Gerade in unsicheren Zeiten braucht die Industrie ein Mindestmaß an Planungssicherheit.
Es ist endlich an der Zeit zu erkennen, dass Investitionen in Gesundheit nicht nur schlau, sondern alternativlos sind.