Statements der Verbände
Dr. René Buholzer |
Wer vor 30 Jahren ein Buch zu einem spezifischen Thema kaufen wollte, musste in einen Buchladen. Dort wühlte man sich durch die verschiedenen Regale, las Klappentexte und stand am Schluss mit einer Auswahl vor der Kasse, ohne zu wissen, ob man das Richtige gefunden hatte. Wer sich heute für ein Thema interessiert, ruft mit seinem Smartphone eine Online-Plattform auf, erhält dort datenbasierte Empfehlungen und bestellt mit einem Klick das passende Buch. Die Digitalisierung hat die Reise für den Konsumenten fundamental verändert, vereinfacht, und bringt ihm zahlreiche Vorteile. Seine Bedürfnisse stehen konsequent im Zentrum. Wer vor 30 Jahren ein Krankheitssymptom hatte, musste zu seinem Arzt gehen. Dieser stellte eine Diagnose, basierend auf dem, was er sah, und dem, was er oder andere Ärzte bereits früher handschriftlich in einer Akte festgehalten hatten. Man erhielt Medikamente und ging wieder nach Hause. Das passiert mehrheitlich heute noch genauso. Digitalisierung bringt Vorteile. Umso erstaunlicher ist, dass einer der wichtigsten Pfeiler unserer Gesellschaft immun gegenüber dieser Entwicklung scheint: In fast keinem Bereich findet die Digitalisierung so wenig Einzug wie in unserem Gesundheitswesen.
Insbesondere die Schweiz ist hier im Hintertreffen. Laut dem digital health index der Bertelsmann-Stiftung liegt sie abgeschlagen auf dem viertletzten Platz. Österreich steht etwas besser da – auf Platz 10 von 17. Und Deutschland? Deutschland nimmt den vorletzten Platz ein. Nur Polens Gesundheitssystem ist weniger digitalisiert.
Eigentlich wäre klar, was ein nachhaltiges Gesundheitssystem leisten muss. Genauso wie der Konsument muss auch der Patient darauf vertrauen können, dass seine Bedürfnisse und sein Nutzen von Anfang bis zum Ende, von der Prävention über die Erkennung bis hin zur Behandlung, im Zentrum stehen. Das Fördern von Gesundheit und das Heilen von Krankheiten müssen miteinander verbunden sein. Dies bedingt, dass die verschiedenen Akteure des Gesundheitssystems die Behandlungen und Therapien koordinieren und disziplinübergreifend vorgehen. Exakt dies ist auch das Versprechen von datenbasierten Gesundheitssystemen.
Das zweistufige Modell der Systeme
Wie müsste ein solches System aussehen, in dem Patienten, Spitäler, forschende Unternehmen, Wissenschaftler der Universitäten und Versicherer Daten über Gesundheit systematisch und verantwortungsvoll erheben, teilen und nutzen können? Ein zweistufiges Modell bietet sich an. Als erste Stufe muss ein solches Gesundheitsdatenökosystem eine Infrastruktur besitzen, die die Rahmenbedingungen bietet, um Daten sicher zu teilen. Diese Infrastruktur beinhaltet die rechtlichen Fragen im Datenschutz und Datenzugang. Gesundheitsdaten müssen besonders stark geschützt werden. Rechtliche Vorgaben müssen mit einer robusten Data Governance ergänzt werden. Die Akteure müssen ethische Verhaltensstandards ausarbeiten und sich dazu verpflichten, wie mit den Daten umgegangen wird. Gleichzeitig bedingt eine solche Infrastruktur das Vorhandensein von technischen Übereinkünften über die sogenannte Interoperabilität. Nur wenn alle Beteiligten die Daten nach denselben Standards erheben, speichern und bearbeiten, können sie getauscht werden. Dieses Fundament ist wie eine Autobahn, sie muss gebaut, geregelt und unterhalten werden. Es hat in vielerlei Hinsicht den Charakter eines öffentlichen Gutes.
Die zweite Stufe des Modells sind verschiedene, thematische und geschlossene Teilsysteme, die von den betroffenen Akteuren aufgebaut werden – wie Fahrzeuglenker, die die Autobahn nutzen. Aus der Vielfalt dieser Teilsysteme ergibt sich der nachhaltige Patientennutzen. Zum Beispiel können Spitäler, Forscher, Versicherer und Unternehmen mit dem Teilen von Daten ein System entwickeln, das eine Erkennung und Behandlung von Diabetikern ermöglicht. Dabei sollen künftig auch traditionell außerhalb des Gesundheitssystems stehende Akteure miteinbezogen werden: von Konsumgüterherstellern bis zum Handel. Unter diesen Teilsystemen soll Wettbewerb herrschen. Dadurch werden die verschiedenen Angebote und Dienstleistungen von Beginn bis zum Ende an den Bedürfnissen des Patienten ausgerichtet. Es beginnt mit dem Erkennen der Krankheit, gefolgt von der Therapie und der Prävention, indem z. B. der Diabetespatient auf ihn zugeschnittene Informationen über eine gesunde Ernährung erhält. Es ist offensichtlich, was ein solches System für die Patienten an Mehrwert bietet, aber auch für die Effizienz des gesamten Gesundheitswesens.
Wo liegen die Herausforderungen?
Wenn doch eigentlich der gesellschaftliche Nutzen von Gesundheitsdatenökosystemen so überwältigend ist, warum baut denn niemand diese Autobahn? Die Hürden sind z. T. historisch gewachsen, z. T. inhärent in einem föderalen System wie der Schweiz oder in einem Verbund wie der EU, in dem die Gesundheitsversorgung nach wie vor in der Kompetenz der 27 Mitgliedstaaten liegt. Aber vor allem auch verhindern nicht ausbalancierte Anreize im System und gegensätzliche Interessen den Aufbau von Gesundheitsdatenökosystemen. Silodenken herrscht vor, statt der Einsicht, dass Netzwerkeffekte langfristig gewinnbringender sind.
Wie kann dieses Problem gelöst werden? Es braucht ein Zusammenspiel aus Bottom-up- und Top-down-Initiativen. Für die präkompetitive Infrastruktur spricht sehr viel dafür, dass der Staat als zentraler Koordinator dafür verantwortlich sein soll. Er kann verbindliche Standards festlegen. Zudem sendet er auch die nötige Glaubwürdigkeit an die Akteure aus, die das System nutzen sollen. Wie die Dateninfrastruktur dann genutzt wird, obliegt den einzelnen Akteuren. Sie müssen auf dem Fundament ein kompetitives Netzwerk aus unterschiedlichen, innovativen Lösungen für unterschiedliche Probleme der Patienten aufbauen. Damit die Akteure sich auch tatsächlich dem annehmen, müssen die richtigen Anreize gefunden werden. Anreize, die den Weg zur Kollaboration ebnen.
Um das Problem des kollektiven Handelns mit Bezug auf ein Gesundheitsdatenökosystem zu überwinden, ist die Politik gefordert. Es ist ihre Aufgabe, mittels tarifärer Anreize den Value-Based-Health-Care-Ansatz zu ermöglichen. Diesen hat ein bekannter amerikanischer Ökonom, Michael Porter, bereits vor 20 Jahren entwickelt. Wie erfolgreich dieser Ansatz sein kann, lebt das Universitätsspital Basel vor, das diesen eingeführt hat. Seither hat sich die Qualität der Leistungen verbessert und die Kosten konnten gesenkt werden. Was wären weitere Anreize, die die Kooperation mit einem solchen System begünstigten? Zum Beispiel braucht es Vorreiter, sogenannte Leuchtturm-Projekte von Datenökosystemen, die in kleinerem Rahmen den Nutzen vorleben und veranschaulichen. Solche Projekte müssen bekannt gemacht und diskutiert werden.
EU drückt auf das Tempo
Das Potenzial eines offenen Gesundheitsdatenökosystems ist auch der EU bewusst. Der europäische Gesundheitsdatenraum ist Teil der europäischen Datenstrategie. Die Kommission möchte hierzu 2021 gesetzliche Vorschläge unterbreiten, der Fahrplan der EU sieht aber noch weitere konkrete Maßnahmen vor.Die EU hat somit die politische Initiative ergriffen, die sich so in der Schweiz noch nicht zeigt. Dabei muss aber festgehalten werden, dass die EU und die Schweiz nicht in einem Wettbewerb stehen. Denn der Nutzen solcher netzwerkbasierten Plattformen ergibt sich ja gerade daraus, dass sie verbunden werden können. Je mehr Daten geteilt werden, desto höher der Mehrwert für die Patienten und die Gesundheitsversorgung – das ist eine der wichtigsten Lehren aus der aktuellen Pandemie. Die Frage lautet somit nicht, wer zuerst ein Gesundheitsdatenökosystem aufbauen kann, sondern wie die Schweiz und die EU zusammenarbeiten können, damit die Systeme kompatibel sind. Auch hier lautet also das Erfolgsrezept: Kollaboration.